Rezension von Emma
Wie wahrscheinlich 50 Millionen andere Neunt- und Zehntklässler*innen in diesem Land auch, haben wir im Deutschunterricht gerade „Tschick“ von Wolfgang Herrndorf gelesen. Und ich möchte jetzt ganz rational an alle Deutschlehrer*innen appellieren, dieses Buch nicht im Unterricht zu lesen, und dafür werde ich jetzt ein paar ganz rationale Argumente sammeln.
Persönlich hatte ich schon von Anfang an keine Lust auf das Buch, aus ein paar ganz einfachen Gründen:
- Das Cover ist – tut mir nicht leid, das zu sagen – verdammt hässlich.
- Maik und Tschick sind Achtklässler. Achtklässler. Das heißt, sie sind zwei Jahre jünger als ich. Das ist unter meinem Niveau.
- Das Buch wurde von einem Mann geschrieben und auch die Protagonisten sind männlich. Wie in jeder Lektüre, die wir in der Schule bis jetzt gelesen haben. (Außer Anne Frank)
- Unsere Deutschlehrerin hat uns das Buch einfach hingeknallt. Wir hatten keine Möglichkeit, mitzubestimmen. Ich mag es nicht, wenn mir befohlen wird, was ich zu lesen habe.
Aber ich habe mich halt trotzdem auf das Buch eingelassen, man kann ja immer positiv überrascht werden. Tzja, wurde ich bei Tschick eben nicht. Aber erstmal: Darum geht’s:
Maik kommt aus verlotterten Familienverhältnissen, ist auch in der Schule am unteren Ende der sozialen Leiter und soll die Ferien allein in der Berliner Villa verbringen: Sein Leben ist echt kein Bilderbuch. Alles ändert sich, als er „Tschick“ kennenlernt und dieser ihn mit auf eine Reise im gestohlenen Auto quer durch die Brandenburgische Pampa nimmt.
Ich finde, man kann schon da eins der Probleme am Buch herauserkennen: „Tschick“ hat eigentlich keinen Plot. Klar, die zwei haben ein Auto gestohlen und fahren damit halt durch die Gegend, und zwischendurch treffen sie Nebencharaktere und fahren halt Auto. Yay, spannendes Buch. Die Geschichte wird so erzählt, dass der Autor quasi am Ende anfängt, die Geschichte zu erzählen und dann vorgespult wird, um wenigstens ein winziges bisschen Spannung aus dem Plot zu holen.
Der einzige Spannungsfaktor im Buch sind die Nebencharaktere (das kann ich sehr sicher sagen, weil die analysiere ich gerade, darüber müssen wir nämlich unser Referat halten), aber auch die Nebencharaktere sind nicht einfallsreich konzipiert, stattdessen sind sie eine Aneinanderreihung an langweilige-Menschen-aus-der-Großstadt-Klischees und komische-Menschen-vom-Land-Klischees. Vor allem die Darstellung der Menschen auf dem Land hat mir nicht gefallen: Da gibt es den Kommunisten, der an seiner toten Frau hängt, die verlotterte Vierzehnjährige, die Spießer-Familie, den Dorfsheriff. Und diese Klischees sind nicht nur langweilig und nicht realitätsgetreu, sie sind auch problematisch, denn Bücher und Filme leben uns vor, wie wir sein sollen, und so haben fiktionale Charaktere eine Vorbildfunktion. Wenn aber jeder Charakter einem anderen Klischee entspricht – wie sollen wir, die Leser*innen, denn dann zu starken individuellen Persönlichkeiten werden? Als wir unsere Deutschlehrerin auf diese Klischees angesprochen haben, meinte sie nur so: Ja, Maik hat halt eine verzerrte Realitätswahrnehmung, da geht das schon in Ordnung. Nein, geht es nicht, eben wegen der Vorbildfunktion von Jugendbüchern.
Auch die Protagonisten sind definitiv keine guten Vorbilder: Die beiden haben ein Auto gestohlen und kommen damit (weitestgehend) ohne strafe davon. Ja, sie werden von der Polizei geschnappt, aber das Buch macht keineswegs deutlich, dass ein Diebstahl eben nicht in Ordnung geht, wenn man aus schlechten Familienverhältnissen kommt.
Zudem ist das Buch absolut sexistisch. Es beginnt damit, dass Maik direkt die erste weibliche Nebenfigur im Buch sexualisiert. Juhu, habe ich vermisst.
Und auch im restlichen Buch gibt es keine weibliche Buchfigur, die irgendwie einen tieferen Charakter hätte. Klar, es gibt weibliche Nebencharaktere. Auch zwei Love-Interests eben. Aber der Sinn dieser Figuren ist eben vor allem, Sexualisierungsobjekt männlicher Fantasien zu sein.
Aber nicht nur mit Sexismus, sondern auch mit Rassismus, Queerfeindlichkeit und Ageismus (=Feindlichkeit gegen junge / alte Menschen) punktet der Roman *total*. Und für eine Schullektüre geht das gar nicht. Sind das etwa die Werte, die der ach so rücksichtslosen Jugend von Heute vermittelt werden sollen? In der Schule? Ich denke nicht. Ach, und Tschick: Witze über Hitlerbärte sind nicht lustig, okay? Danke.
Okay, jetzt kennt ihr also meine Kritik an dem Buch – woher also kommen die ganzen positiven Blurbs in und auf dem Buch? Und wie hat das Buch den Jugendliteraturpreis gewonnen? Klar, es gibt immer Leute, denen ein aus meinen Augen noch so schlechtes Buch gefällt, aber es ist schon erstaunlich Literaturkritiker*innen-gehyped (gewesen). Ich zitiere Felicitas von Lovenberg von der FAZ auf der Buchrückseite: „Auch in fünfzig Jahren wird dies noch ein Roman sein, den wir lesen wollen. Aber besser, man fängt gleich damit an.“
Es ist für mich absolut unverständlich. Aber auf der ewig langen Recherche zu unserem Referat über Tschick haben wir ein Interview mit dem Autor gefunden, in dem er sagt, er habe ein Buch schreiben wollen, dass den Vibe von den Büchern seiner Jugend einfängt, sowas wie Huckleberry Finn und Robinson Crusoe oder was-weiß-ich, also ein Buch mit Jugendlichen, die auf eigene Faust eine Reise (damals übers Wasser) unternehmen und das Abenteuer ihres Lebens erleben. Tzja, ich finde, da liegt schon ein Teil des Problems. All diese Bücher mögen zwar seine Jugend gewesen sein, aber das ist – ich weiß nicht – fünfzig Jahre her oder so. Die Vibes mögen zwar den Literaturkritiker*innen gefallen, aber sie sind einfach aus der Zeit gefallen. I mean, da gab es noch kein Internet. Keine Handys. Maik und Tschick lassen ihre daheim (mAn kÖnNtE jA gEoRtEt wErDeN) und das ist eigentlich der Grund für den ganzen Reise-Verlauf. Mag ja zum Plot passen, ist aber vollkommen unrealistisch und einfach aus der Zeit gefallen.
So. Jetzt habe ich genug über „Tschick“ gemeckert und hoffe einfach, dass das hier (unrealistischerweise) von ganz vielen Deutschlehrkräften gelesen wird, die sich dann alle für ein anderes Buch als Schullektüre entscheiden.
PS: Zum Thema Welche Bücher sind denn jetzt gute Schullektüren hat Mirai einen Beitrag geschrieben, den ich sehr unterstütze und euch jetzt einfach mal verlinke: hier entlang!
Allgemeine Infos:
Autor: Wolfgang Herrndorf | 256 Seiten | erschienen 2012 im Rowohlt-Verlag | Dieses Buch besteht den Bechdel-Test nicht | Disclaimer: alle Rechte am Cover liegen beim Verlag
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Kommentare
Oh Gott, ja, dieses Buch ist sooo schrecklich! Wir haben es nicht im Deutschunterricht gelesen (dafür ein ein anderes furchtbares Buch, eine Dystopie namens "Die Scanner"), aber das gab's in unserer Bibliothek und wegen der ganzen Aufregung drumherum habe ich's mir ausgeliehen. All deine Punkte treffen zu einundert Prozent zu.
Und der Schreibstil ist einfach zum Kotzen. Wer redet bitteschön so?
Liebe Grüße
Susanna
Du hast sooo Recht mit deiner Kritik. Wir haben das Buch auch im Deutschunterricht gelesen und ich fand es wirklich kein bisschen unserer Zeit angemessen. Ich kann einfach nicht verstehen, warum "Tschick" immer noch so beliebt bei den Lehrer*innen ist. Zumal man* so viele gute Bücher lesen könnte, die wichtige Themen ansprechen und viel diverser sind.
Alles Liebe und buchige Grüße!